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Mut zum stillen Lesen

Das stille Lesen ist die im Leben vorherrschende und geforderte Leseform. Deshalb sollte es auch im Unterricht gepflegt werden – am besten mit Texten, die die Schüler/innen selbst auswählen.


Je schneller man lesen kann, umso mehr Gehirnkapazität bleibt für die Erfassung des Textinhaltes verfügbar. Das stille Lesen ermöglicht ein hohes Lesetempo. Denn der Lesewortschatz ist als Lexik gespeichert und wird blitzschnell wieder erkannt.
Um nicht missverstanden zu werden, natürlich gehört zur Methodik des Schriftspracherwerbs auch „lautes Lesen“, insbesondere wenn es um die wichtige Voraussetzung der phonologischen Bewusstheit geht. Aber hier geht es im Grunde nicht um echtes Lesen, sondern um ein Nachsprechen aus methodischen Gründen. Im Gegensatz zu früher ist man sich heute in der Didaktik einig: Das stille Lesen ist die wichtigste Voraussetzung für eine differenzierte Leseerziehung.
Leider wird heute in den Schulen noch viel zu oft nicht gelesen, sondern bestenfalls nur das Lesen geübt. Da liest die ganze Klasse einen Text, einer nach dem anderen wird aufgerufen, um eine Passage laut vorzulesen, die anderen müssen mitlesen, keiner darf vorauslesen, weil es ihm z. B. zu langsam geht, keiner darf hinterherlesen, weil ihm eine Passage so gut gefällt, dass er sie nochmals erfassen möchte. Das ist im Regelfall eine Unter- oder Überforderung der Kinder.
Über stilles Lesen wird mühelos eine Individualisierung des Unterrichts erreicht, weil alle nach ihren Fähigkeiten in ihrem Tempo lesen dürfen. Hier werden die Schüler/innen am stärksten aktiviert. Denn sie können sich voll auf einen Text einlassen, die Neugierde befriedigen und die eigene Lesefähigkeit zur Sinnentnahme einsetzen.
Noch besser ist es natürlich, wenn sich die Schüler/innen den Text selbst aussuchen dürfen. So arbeiten z. B. amerikanische Schulen nach der Methode „silent reading“: Täglich lesen die Schüler/innen still für 10 bis 20 Minuten einen Text, den sie sich selbst aussuchen, und informieren später die Klasse darüber. In Finnland ist das „Pultbuch“ eine Selbstverständlichkeit: Jedes Kind hat unter der Schulbank ein Buch seiner Wahl und darf darin lesen, wenn es z. B. eher fertig ist oder wenn die Lehrkraft das „silent reading“ pflegt.
Übrigens: Das längere, individuelle stille Lesen in der Klasse hat noch mindestens zwei positive Nebeneffekte. Zum einen bringt es Lebensnähe in die Schule, zum anderen entkrampft es das Lehrer-Schüler-Verhältnis. Es tut Lernenden und Lehrenden gut, wenn sie mal nichts miteinander zu tun haben. Auch Schüler/innen möchten zwischendurch in Ruhe gelassen werden und einfach nur lesen. Diese Ruhe verschafft silent reading, wobei hier aber die Schüler/innen keineswegs ruhen, im Gegenteil: Das Erfassen eines Textes durch stilles Lesen ist, so die Erkenntnis der modernen Gehirnforschung, eine anstrengende Rekonstruktionsleistung des Gehirns.
Manfred Schreiner
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